Wunder
Guten Morgen Wundervolle Erde!
Erwachtes Glück der Vergänglichkeit.
Vorbei sind Schmerz und Leid.
Gnadenvoller Tod die Erde heimgesucht,
nun friedlich ruhend,
sanft vergehend im Dunkel.
– Reichtum der Erde –
Schatz aus Ärger, Krankheit und Tränen.
Nährende Kost aus Eis und Frost.
Sorgender, formender Boden.
Keimgut für frühes Glück.
Hoch oben,
ein Lächeln geboren.
Eine Hand voll süsse Früchte schmeichelt dem Gaumen.
Genuss vergangenen Leids.
Sonniges Sein Dank grauer Zeit.
sich wiegend in sonnigem Licht.
Grünes Vergnügen im Wind,
brummend summende Bienen
feiern den Sieg der Liebe.
Steine erhellen stumm sich wärmend im Schein.
Lächelnde Augen überall,
singende Stimmen, frohe offene Ohren.
Lebendige Spiele glücklicher Kinder.
Gedeihen aus grauer Not und kaltem Tod.
Freudiger Spross tanzend in klaren Farben.
Wo ist Anfang ? Und wo ist Ende?
Alles in Liebe.
Alles ist Eins.
Endlos wandelnde Zeit.
Natürliches Wunder
ewigen Seins.
Wir gehen um mit Blume, Weinblatt, Frucht.
Sie sprechen nicht die Sprache nur des Jahres.
Aus Dunkel steigt ein buntes Offenbares
und hat vielleicht den Glanz der Eifersucht
der Toten an sich, die die Erde stärken.
Was wissen wir von ihrem Teil an dem?
Es ist seit lange ihre Art, den Lehm
mit ihrem freien Marke zu durchmärken.
Nun fragt sich nur: tun sie es gern? …
Drängt diese Frucht, ein Werk von schweren Sklaven,
geballt zu uns empor, zu ihren Herrn?
Sind sie die Herrn, die bei den Wurzeln schlafen,
und gönnen uns aus ihren Uberflüssen
dies Zwischending aus stummer Kraft und Küssen?
Frühling ist wiedergekommen. Die Erde
ist wie ein Kind, das Gedichte weiß;
viele, o viele … Für die Beschwerde
langen Lernens bekommt sie den Preis.
Streng war ihr Lehrer. Wir mochten das Weiße
an dem Barte des alten Manns.
Nun, wie das Grüne, das Blaue heiße,
dürfen wir fragen: sie kanns, sie kanns!
Erde, die frei hat, du glückliche, spiele
nun mit den Kindern. Wir wollen dich fangen,
fröhliche Erde. Dem Frohsten gelingts.
O, was der Lehrer sie lehrte, das Viele,
und was gedruckt steht in Wurzeln und langen
schwierigen Stämmen: sie singts, sie singts!
Rainer Maria Rilke: Sonette an Orpheus